Das Gleiche und dasselbe revisited: zur Rolle des bestimmten Artikels

Weil schon der erste Nicht-dasselbe-sondern-das-Gleiche-Tweet kam: Ich würde diesen Unterschied ja gerne *spüren*, aber ich fühle da absolut nichts :(

— Anatol Stefanowitsch (@astefanowitsch) January 25, 2019

Welches Gleiche?

Bei gleich geht es um qualitative Identität (mehrere Dinge können sich gleichen), bei dasselbe um numerische Identität (ein Ding liegt vor, wobei jedes der erwähnten Dinge tatsächlich genau jenes Ding selbst ist) – so entsteht bei gewissen Verwendungen der irrige (!) Eindruck, dass dasselbe fehl am Platz ist und stattdessen das gleiche richtig wäre. Manchmal wird gar unterstellt, das gleiche könne bei numerischer Identität gar nicht verwendet werden, so sagt Lisa Ruhfus in einem Video: gleich ist mit dem Wort Vergleich verwandt. Das setzt ja voraus, dass die Sache mehrfach vorhanden ist. […] Und ein und denselben Gegenstand kannst du schlecht miteinander vergleichen. Das ist abwegig, es mag zwar verschiedene sich gleichende Dinge geben, aber jedes Ding gleicht natürlich auch sich selbst. (Sonderfall beim Programmieren: NaN-Werte gelten als ungleich sich selbst; die Formulierung 0/0 ist das Gleiche wie NaN verbietet sich, wenn gleich entsprechend der Gleichheitsrelation nach IEEE 754-2008 verwendet werden soll, mit dasselbe wäre sie einwandfrei. Für Autoritätshörige sei aus dem Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm zitiert (Eintrag derselbe): am nachdrücklichsten steht es in der bedeutung von idem, wo man auch der nemliche, der gleiche sagt; vergl. dasselbigkeit. ich bin immer derselbe, der gleiche, ändere mich nicht in meiner gesinnung. Ob es demnächst heißen wird, das nämliche stehe lediglich für Namensgleichheit?)

  1. Alex besitzt das gleiche Auto wie Charlie.
  2. Alex besitzt dasselbe Auto wie Charlie.

Satz 1 soll lediglich bedeuten, dass die erwähnten Personen ein Auto desselben Fabrikats besitzen, während Satz 2 bedeuten soll, dass sie gemeinsam ein Auto besitzen. Ist diese Bedeutungszuordnung zwingend?

Manche haben bereits darauf hingewiesen, dass Wörter auf verschiedenen – ich will es mal so nennen – Abstraktionsebenen verwendet werden können. Bastian Sick: Es kommt nicht nur darauf an, was man unter demselben und dem Gleichen versteht, sondern auch, wie man die Sache, um die es dabei geht, definiert: als Einzelstück oder als Oberbegriff. […] Wenn man unter Modell ein Einzelstück versteht, dann benutzen wir lediglich das gleiche. Wenn mit Modell aber die Vorlage gemeint ist, nach der all die vielen gleichen Zahnbürsten angefertigt wurden – dann kann man sehr wohl vom selben Modell sprechen. Auf unser Beispiel übertragen: Mit Auto kann zum einen ein konkretes Exemplar gemeint sein, zum anderen ein Autotyp (vgl. Dieses Smartphone/T-Shirt/… habe ich auch, Das Sortiment umfasst derzeit nur fünf Taschenrechner), siehe auch die Unterscheidung zwischen Type, Token und Vorkommnis oder Äquivalenzklassen und Repräsentanten.

Sick scheint jedoch die Rolle des bestimmten Artikels zu entgehen, wenn er dann benutzen wir lediglich das gleiche schreibt. Ein Wikipedia-Benutzer hat den Sachverhalt gestreift (wenn man ein anderes ei hinlegt, sollte man es (je nach kontext) nicht als das gleiche bezeichnen, weil das missverstaendlich sein kann. imho koennte man es als ein gleiches bezeichnen), bisher habe ich ihn aber nirgends analysiert gesehen. Mit diesem Beitrag soll das nachgereicht werden. In unserem ersten Beispielsatz heißt es nicht etwa ein gleiches oder ein solches, sondern das gleiche. Etwas auseinanderklamüsert:

  1. Alex besitzt das gleiche Auto wie eines, das Charlie besitzt.

Der Teil das gleiche Auto wie eines, das Charlie besitzt kennzeichnet für ein gegebenes Auto, das Charlie besitzt, einen bestimmten Gegenstand, da ja der bestimmte Artikel verwendet wird. Wie kann aber ohne weiteren Kontext klar sein, welches Auto von allen, die dem von Charlie gleichen, gemeint ist? Eben dadurch, dass es nur ein solches Auto gibt; die Wörter Auto und gleich sind in dem Fall schon so gemeint, dass gesagt werden kann: Nur das Auto von Charlie selbst gleicht sich selbst (es könnte sein, dass mit gleich ›vom selben Modell‹ gemeint ist und Auto in der entsprechend abstrakten Bedeutung verwendet wird). In diesem Fall kann statt das gleiche also auch dasselbe gebraucht werden – bei exakt identischer Bedeutung von Auto!

Kurzum: Wieso soll in Stefanowitschs Tweet einerseits dasselbe Bild falsch sein, andererseits ausgerechnet das gleiche Bild mit bestimmtem Artikel richtig? Auf welches gleiche Bild soll bitte referiert werden, wenn nicht auf dasjenige, das das Kind zuvor bereits gemalt hat? Zugunsten der Formulierung das gleiche Bild kann angeführt werden, dass unter Bild nicht unbedingt ein exaktes Aussehen subsumiert ist, sondern ein einziges Bild mehrfach gemalt werden kann, sodass die Ergebnisse etwas unterschiedlich aussehen, mit dem gleichen Argument kann aber auch dasselbe Bild verteidigt werden. Anderes Beispiel: Mit Monat kann ein konkreter Zeitraum gemeint sein, zum Beispiel der März des Jahres 1874 (im Gegensatz zum März des Jahres 1879), aber auch so etwas wie der März schlechthin. Harry Houdini und Albert Einstein wurden im selben/gleichen MonatABSTR geboren (nämlich im März), aber nicht im selben/gleichen MonatKONKR (Houdini kam 1874 zur Welt, Einstein 1879).

Ich unterstelle nicht, dass das gleiche ohne numerische Identität unmöglich ist. Nehmen wir an, es gibt einen Schlüssel S und in einem Regal R befindet sich ein anderer Schlüssel, der S gleicht, aber sonst keiner. Dann kann vom Schlüssel SKONKR und dem gleichen SchlüsselKONKR im Regal R gesprochen werden, hingegen befindet sich in R nicht derselbe SchlüsselKONKR wie SKONKR (das ist sowieso Haarspalterei, denn derselbe SchlüsselABSTR wie SABSTR befindet sich in R sehr wohl!). Hinzu kommt, dass der Kontext bei der Identifikation mit reinspielen kann (zum Beispiel vorherige Erwähnung, Zeigen mit dem Zeigefinger). Man könnte etwa das Regal R im Hinterkopf haben und mit der gleiche Schlüssel wie S den gleichen Schlüssel wie S von allen Schlüsseln im Regal R meinen, auch ohne das Regal explizit zu erwähnen. Festhalten lässt sich jedoch, dass … ist das Gleiche wie … anders als … und … gleichen sich eine definite Kennzeichnung enthält und so eine Kennzeichnung nicht in jedem Fall passend ist.

Belles Lettres:

Er ist derselbe wie früher. – Das ist ja ohnehin klar, daß er die Identität nicht geändert hat. Man möchte ja eigentlich damit zum Ausdruck bringen, […] daß er sich nicht verändert hat. […] Deswegen ist das Richtige hier Er ist der gleiche [reformierte Rechtschreibung: Gleiche – Anmerkung des Verfassers] wie früher.

Wir haben es mit der Besonderheit zu tun, dass dieselbe Person in zwei unterschiedlichen Situationen betrachtet wird; einmal zum heutigen Zeitpunkt und einmal zu einem früheren Zeitpunkt. Scheinbar wird Gleichheit relativ zu den Situationen betrachtet, sodass der Gleiche in diesem Fall nicht ohne Wechsel der Abstraktionsebene durch derselbe ersetzt werden kann, da ja nicht bloß ausgedrückt werden soll, dass es sich um dieselbe Person handelt, sondern dass sie in beiden Situationen gleich ist. Ich bin da jedoch skeptisch, denn ich würde den Satz Er ist der Gleiche wie früher nicht so verstehen wie Er ist derjenige, der gleich ist, wie er früher war, sondern wie Er ist der Gleiche wie jemand, der er früher war.

Lehrerschmidt vergleicht das Gleiche mit einer mathematischen Gleichung. Doch davon abgesehen, dass es mit der Bedeutung von das Gleiche – wie bereits aufgezeigt – nicht so bestellt ist, wie gerne angenommen wird, steht das Gleichheitszeichen standardmäßig tatsächlich für numerische und nicht bloß qualitative Identität. Metasprachlich kann man natürlich sagen, dass »2 + 2« und »4« unterschiedliche Terme sind (ich verwende hier der Deutlichkeit halber Anführungszeichen, in der mathematischen Logik lässt man sie bei der Beschreibung von Kalkülen gerne weg), aber objektsprachlich lassen sich die Zahlen 2 + 2 und 4 nicht auseinanderhalten, sie sind dieselbe Zahl, so wie eine Orange dasselbe ist wie eine Apfelsine, auch wenn die Wörter Orange und Apfelsine natürlich unterschiedlich sind. Der Satz Zwei plus zwei macht/ergibt vier (anstelle von Zwei plus zwei ist [gleich] vier) lässt sich wiederum damit erklären, dass zwei plus zwei in dem Fall nicht die Zahl 2 + 2 bezeichnet, sondern es um eine Rechenoperation geht: Zwei plus zwei gerechnet ergibt vier. Symbolisch könnte man auch schreiben: 2, 2 +↦ 4 (2 und 2 werden von der +-Operation auf 4 abgebildet / ergeben +-gerechnet 4).

Pragmatik

Pleonasmus, mehr nicht.

— Seifenblasenflausch (@SoapBubbleFluff) January 25, 2019

Max Goldt bemerkte:

Wie lächerlich der Begriff «Studierende» ist, wird deutlich, wenn man ihn mit einem Partizip Präsens verbindet. Man kann nicht sagen: «In der Kneipe sitzen biertrinkende Studierende.» Oder nach einem Massaker an einer Universität: «Die Bevölkerung beweint die sterbenden Studierenden.» Niemand kann gleichzeitig sterben und studieren.

Nun kann das Verb studieren aber auch einfach ›immatrikuliert sein‹ bedeuten, ein BWL-Student kann zum Beispiel Ich studiere BWL sagen, selbst wenn er nicht gerade lernt, sondern Bier trinkt, rein theoretisch lässt sich dann vollkommen korrekt der Satz Er studiert und trinkt gleichzeitig Bier formulieren. Es ist allerdings kaum sinnvoll, die Gleichzeitigkeit zu betonen, wenn mit studieren lediglich das Immatrikuliertsein gemeint ist. Ähnlich, aber weniger drastisch, verhält es sich mit Partizipialformen: Es gibt wohletablierte Personenbezeichnungen wie Läufer und wenn stattdessen eine Partizipialform wie Laufender verwendet wird, dann kann das daran liegen, dass etwas anderes gemeint ist. Zum Beispiel sind im deutschen Recht Ausbilder und Ausbildender nicht synonym. Die Wahl der Partizipialform kann aber auch einen anderen Grund haben, beispielsweise die Absicht, »geschlechtergerecht« zu schreiben oder Konstruktionen wie die hier Studierenden zu ermöglichen (die hier Studenten geht ja nicht).

Betrachten wir ein und dasselbe Auto. Mit dem Zusatz ein und wird die Einzigkeit extra hervorgehoben und so liegt es nahe, dass ein konkreter Gegenstand gemeint ist. Bei dasselbe Auto liegt so eine Verstärkung dagegen nicht vor, hier kann mit Auto auch gut etwas Abstrakteres gemeint sein. Dennoch lässt sich festhalten, dass die abstrakte Bedeutung bei der Formulierung das gleiche Auto deutlicher rüberkommt, denn es kann (mit einer nicht allzu engen Auffassung von Gleichheit) gut mehrere gleiche AutosKONKR geben.

Natürlich könnte man sich jetzt darauf festlegen, bei Auto in der ABSTR-Bedeutung nicht dasselbe zu verwenden. Dies schützt vor diesbezüglicher Besserwisserei und vor Missverständnissen, falls von der Befolgung einer gewissen Unterscheidung ausgegangen wird. Sofern es wichtig ist, ob ein Exemplar oder ein Typ gleichgesetzt wird, kann auch gleich eine klarere Formulierung gewählt werden. (Wir teilen uns ein Fahrrad. Ich habe ein gleiches Auto gesehen, weiß aber nicht, ob es dasselbe war.) Im Collins Deutsch-Englisch Wörterbuch wird das gleiche, aber nicht dasselbe Auto übersetzt mit a similar car, but not the same one – beachte hierbei den unbestimmten Artikel, a similar car entspricht eigentlich ein ähnliches Auto.

Exkurs

Nach dem Internationalen Einheitensystem sind 0 Kelvin nicht dasselbe wie −273,15 Grad Celsius, denn eine Angabe wie »0 K« steht für das Produkt aus dem Zahlenwert und der Einheit. Demnach sind 0 Kelvin (0 multipliziert mit Kelvin) schlichtweg 0 und wenn −273,15 °C = 0 K gälte, so wäre das Grad Celsius 0, das passt nicht. Stattdessen ist Grad Celsius ein besonderer Name für das Kelvin, welcher für Celsiustemperaturen verwendet wird. Die Celsiustemperatur t ist durch die Gleichung t = T − T0 definiert, wobei T die absolute Temperatur und T0 = 273,15 K ist. Es gilt: t/°C = T/K − 273,15. Wenn die absolute Temperatur 0 Kelvin beträgt, so beträgt die Celsiustemperatur −273,15 °C, aber diese Größen sind nicht gleich, so wie eine Frequenz von 2 Hz einer Schwingungsdauer von 0,5 s entspricht, aber nicht dasselbe ist. Man könnte das Entsprichtzeichen (≙) verwenden, welches dann gemäß dem Verwendungszusammenhang zu verstehen ist. Diese Auffassung wird allerdings nicht immer vertreten, mir ist denn auch eine Unterscheidung zwischen degree Celsius (°C) für Temperaturen und Celsius degree (C°) für Temperaturdifferenzen begegnet. Manchmal wird behauptet, die Kelvin-Skala sei eine Verhältnisskala, die Celsius- und die Fahrenheit-Skala dagegen lediglich Intervallskalen, da der Nullpunkt willkürlich gewählt ist, doch das erscheint mir fehlgeleitet. Es geht nicht darum, ob ein bestehender Nullpunkt »willkürlich« (ein Wischiwaschi-Begriff!) ist, sondern darum, ob überhaupt ein Nullpunkt ausgezeichnet ist. Zum Beispiel sind Zeitpunkte intervall- und nicht verhältnisskaliert, denn es können zwar Jahreszahlen durcheinander dividiert werden, aber sie sind lediglich ein Format für Zeitpunkte und nicht ohne Weiteres mit den entsprechenden Zeitpunkten gleichzusetzen; der Begriff des Zeitpunkts an sich kennt keinen Nullpunkt. Wenn ich frage: »Ist das Jahr 2000 doppelt so weit entfernt wie das Jahr 1000?«, dann wäre nachzuhaken: »Doppelt so weit entfernt wovon?« Doch sobald wir einen Nullpunkt festgesetzt haben, und sei es auch bei der Celsius-Skala, haben wir eine Verhältnisskala. Da zum Beispiel »20 °C« nach dem SI nicht einfach gleichbedeutend ist mit »293,15 K«, sondern wirklich das Produkt aus dem Zahlenwert 20 und der Einheit °C bezeichnet, kann man durchaus sagen, dass die Celsiustemperatur 40 °C doppelt so groß ist wie die Celsiustemperatur 20 °C, so wie eben die Jahreszahl 2000 doppelt so groß ist wie die Jahreszahl 1000.

Tatsache ist, dass es unterschiedliche Möglichkeiten gibt, etwas Bestimmtes auszudrücken, zum Beispiel ist reelle Zahl, die größer als oder gleich eins ist exakt gleichbedeutend mit reelle Zahl, die nicht kleiner als eins ist. Wie sollte sich die Sprachgemeinschaft denn auch zu jedem Sachverhalt auf eine einzige Formulierungsweise einigen? Ebenso können mehrere Einzelwörter mit derselben Bedeutung gebildet werden, aber im Sinne einer zumindest teilweisen Einheitlichkeit ist bei Sprachpflegern der Hang zu beobachten, bei unterschiedlichen Wörtern auch von einem Bedeutungsunterschied auszugehen.

Manchmal heißt es zum Beispiel, zeitgleich bedeute nicht ›gleichzeitig‹, sondern beziehe sich auf die Dauer. Von der Struktur her könnten die Wörter eigentlich das Gleiche meinen, so wie gleichrangig ›von gleichem Rang‹ und ranggleich ›vom Rang her gleich‹, nur hat das Wort Zeit mindestens zwei Bedeutungen (so ähnlich, wie wir es zuvor mit unterschiedlichen Abstraktionsebenen zu tun hatten): ›Zeitpunkt‹ und ›Zeitdauer‹. Bei gleichzeitig wird heute auf den Zeitpunkt bzw. Zeitraum Bezug genommen, in älteren Texten findet sich das Wort aber auch für ›von gleicher Dauer‹ (August Wilhelm Schlegel, 1798: Die Länge war bey uns gleichzeitig mit zwey Kürzen), ›in gleichem Zeitabstand‹ (Immanuel Kant: Nimmt man, mit Eulern, an, daß die Farben gleichzeitig auf einander folgende Schläge (pulsus) des Äthers, so wie Töne der im Schalle erschütterten Luft sind, […]) oder ›aus der gleichen Zeit‹ (Johann Christoph Gottsched: Er hebt an von den Zeiten eines Odins, Thors und einer Freya, und bedauret nur, daß man keine Lieder gleichzeitiger Dichter aufzuweisen hat; […]). Das Wort zeitgleich wird im Wörterbuch der deutschen Sprache von Joachim Heinrich Campe (1811) erklärt mit in Ansehung der Zeit gleich, z. B. zu gleicher Zeit geboren, also gleich alt (coaevus), heute wird es in zwei Bedeutungen gebraucht, ›zur gleichen Zeit‹ und (im Sport) ›mit gleicher Zeit‹. Es könnte aber freilich argumentiert werden: Da es für ›zur gleichen Zeit‹ bereits gleichzeitig gibt, werde ich zeitgleich nur in der anderen Bedeutung verwenden. Ebenso könnte zwischen gleichsinnig ›auf gleiche Art und Weise‹ und sinngleich ›mit gleicher Bedeutung‹ differenziert werden.

Im 16. Jahrhundert begann eine bedeutungsunterscheidende Trennung zwischen den Pluralformen Worte und Wörter, wobei Worte die ältere ist und heute noch gelegentlich anstelle von Wörter verwendet wird. In der FAQL finden sich Betrag in Worten und Sprichwörter als Beispiele für eine Nichtbeachtung der Trennung (Letzteres wäre ein Gegenbeispiel zur von mir vertretenen These, dass nicht umgekehrt Wörter in der Bedeutung ›Worte (im Sinne der strengen Trennung)‹ verwendet wird), hier wird jedoch übersehen, dass die Regel nicht nur auf Singular-, sondern auch auf eigenständige Art auf Pluralebene greift: Bei Wörtern, die eine zusammenhängende Äußerung ergeben, kann von einem Wort die Rede sein (Beispiel: Vorwort zu einem Buch – Plural Vorworte, dagegen bedeutet Vorwörter ›Präpositionen‹). Doch selbst wenn die Äußerung nicht aus mehreren Teilen aufgebaut ist, die einzeln betrachtet schon eine Rede ergeben, kann im Plural von Worten die Rede sein. Wenn etwa jemand Ich danke dir vielmals sagt, kann hier von Dankesworten die Rede sein, obwohl nicht etwa mehrere Danksagungen vorliegen, sondern die Wörter erst gemeinsam eine Danksagung ausmachen. Passenderweise führt Duden online Dankesworte als Pluraletantum und daneben auch Dankeswort. Ebenso sind fünfundachtzig Euro Worte für einen Geldbetrag. Man könnte hier vielleicht vom Kollektivplural sprechen, unglücklicherweise gebraucht Peter von Polenz das Wort, soweit ich das verstehe, für Kollektivwortbildungen, etwa mit -werk, -gut etc.

Bei Sprichwort wird der Plural dagegen nur verwendet, wenn auch wirklich mehrere volkstümliche Sprüche vorliegen – dies kann darauf zurückgeführt werden, dass Sprichwörter nicht nach Belieben zu einem neuen Sprichwort kombiniert werden können, sondern sich ein Sprichwort erst dann ergibt, wenn es sich in dieser Form auch etabliert hat –, entsprechend lautet die Pluralform Sprichwörter. Es ist natürlich kurios, dass das Kind dann überhaupt Sprichwort genannt wird statt etwa Sprichsatz. Andererseits wird eher geflügelte Worte als geflügelte Wörter (was aber auch vorkommt) verwendet – auch wenn sie sich nicht einfach so zu weiteren geflügelten Worten kombinieren lassen, so handelt es sich ja doch um Worte, die eben geflügelt sind. Bei einigen Komposita kann nach Bedeutung unterschieden werden: Schimpfwörter für einzelne Wörter zum Schimpfen, Schimpfworte für Worte, mit denen (in ihrer Gesamtheit betrachtet) geschimpft wird.

Ein weiterer Klassiker ist anscheinend/scheinbar. Einerseits soll scheinbar bedeuten, dass etwas nicht tatsächlich so ist, andererseits ist im Universalduden für scheinbar als Adjektiv statt Adverb auch die als selten (aber nicht als falsch oder ugs.!) markierte Bedeutung »dem Anschein nach gegeben, vorhanden, bestehend« aufgeführt (Beispiel: »-es Alter des Tätes: 20 Jahre«). Dann könnte ich doch hergehen und das Adjektiv in dieser Bedeutung adverbial gebrauchen, also zum Beispiel »Der Täter ist scheinbar 20 Jahre alt« sagen, ohne damit zu meinen, dass der Täter in Wirklichkeit nicht 20 Jahre alt ist. 🧐 Überhaupt: Kann es sein, dass scheinbar eigentlich Hyperonym (Oberbegriff) von anscheinend ist, statt dass sich die Wörter gegenseitig ausschließen? Dass damit nämlich ausgedrückt wird, dass es so aussieht, als ob etwas der Fall wäre (ohne eine Aussage darüber zu machen, ob es auch tatsächlich der Fall ist; um dies explizit zu verneinen, könnte nur scheinbar gesagt werden), sich der Sprecher damit aber anders als mit anscheinend keine Vermutung zu eigen macht? Zum Vergleich kann die naturwissenschaftliche Verwendung von scheinbar herhalten, etwa in scheinbare Gewichtskraft (mir ist schon klar, dass diese nicht epistemischer Natur ist, dennoch!) – es geht hier nicht darum, etwas in Abrede zu stellen (in der Tat kann die scheinbare Gewichtskraft mit der wahren Gewichtskraft identisch sein; andererseits hat der scheinbare Durchmesser die Dimension 1, der wahre die Dimension L), sondern darum, die Perspektive eines Beobachters einzunehmen. Für ›scheinbar und nur (!) scheinbar‹ gibt es bereits das Wort vermeintlich, bei dem das Präfix ver- auf einen Irrtum hindeutet. Sick unterscheidet analog zwischen Anschein (anscheinend wahr) und Schein (trügerisch), aber was soll denn der An-Schein anderes sein als der äußere Schein? Man könnte mir das Wort Scheintod entgegensetzen, aber hier ist Schein Bestimmungswort, in scheinbar ist es Derivationsbasis; in den Wörtern anscheinend und wahrscheinlich steckt auch Schein, dennoch wird mit diesen Wörtern nicht ausgedrückt, dass der Schein nicht der Wirklichkeit entspricht. Im Wörterbuch der deutschen Sprache von Daniel Sanders (1876) steht zu scheinbar immerhin (Hervorhebung von mir) »dem nicht od. wenigstens möglicherweise nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmenden Anschein nach beurtheilt«. Daniel Scholten: »Hier lässt sich im Moment der Äußerung gar nicht entscheiden, ob etwas scheinbar oder anscheinend ist. Die Urheber und Verfechter der Kunstdefinition haben übersehen, dass diese Unterscheidung nur in ihrem Kopf, nicht aber in der Wirklichkeit von Vorteil ist.«

Leider hat sich die Ansicht festgesetzt, entweder … oder würde die Kontravalenz (exklusive Disjunktion, ausschließendes Oder) ausdrücken. Zum Beispiel ist im Handbuch der deutschen Konnektoren zu lesen:

Manche Autoren [ich zum Beispiel – Anmerkung des Verfassers] stellen sogar ganz in Frage, ob oder überhaupt je (und also auch mit entweder zusammen) in der natürlichen Sprache exklusive Lesart annehmen kann. […] [D]ie Tatsache, dass die Konstruktion als Ganzes inklusiv zu lesen ist, muss nicht auf eine entsprechende Bedeutung des Konnektors zurückgeführt werden. Vielmehr zeigen Bildungen wie entweder (…) oder … oder beide zwar, dass der Ausdruck als Ganzes hier gerade nicht für die exklusive Disjunktion steht, das ist aber über eine tatsächlich exklusive Beziehung zwischen Argumentpaaren vermittelt. […] Mit der exklusiven Relation [Genau eines von den Paaren „p (und per Implikation oder explizit nicht q)“, „q (und per Implikation oder explizit nicht p)“, „p und q“ ist wahr (oder möglich)] umschreibt man dann aber genau die Relation der einschließenden Alternative zwischen den Einzelargumenten p und q. […]

(p ∧ ¬q) >–< (q ∧ ¬p) >–< (p ∧ q) ist völlig äquivalent zu p ∨ q.

Das Argument wäre ja noch nachvollziehbar, wenn entweder p oder q oder beides als Oder-Verknüpfung aus einer Entweder-oder-Verknüpfung analysiert würde, aber hier wird ja gerade von einer dreistelligen Entweder-oder-Verknüpfung ausgegangen. Wieso wird nun aus p plötzlich p und nicht q und aus q q und nicht p, während p und q erhalten bleibt? Sehr seltsam.